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ARTIKEL | Mehr als die Sache an sich – Was wir durch goldene Uhren und Staubsauger lernen können

Die wenigsten von uns bewohnen noch karge Höhlen, ausgestattet nur mit einem Lendenschurz (vor allem nicht diejenigen, die diesen Artikel hier gerade lesen).

Nein, die meisten von uns leben in einer Wohnung oder einem Haus – umgeben von unzähligen materiellen Sachen. Das reicht von Küchenequipment inklusive Töpfen, Besteck und Küchentüchern über Kleidung für festliche Anlässe und unsere gemütlichen Sportoutfits bis hin zu Zahnpasta, Handcreme, Shampoo und Co.

Was davon uns jeder einzelne im Alltag wirklich braucht, können wir selbst entscheiden. Und uns selbst verdeutlichen, indem wir uns auf einem langen Kontinuum von „Sammler“ bis „Minimalist“ einordnen. Ohne, dass man hier eine wissenschaftliche Skala zugrunde legen müsste (oder gar könnte), haben wir alle wohl ein Gefühl, wo in etwa wir uns und unser Sammel- bzw. Kaufverhalten verorten würden.

Geht es allerdings um den Wert der Dinge, die uns umgeben, wird es schwieriger. Hier gibt es keine einfache Messlatte, sondern eher einen multidimensionalen Raum, in dem der Wert (oder die Werte?) einer Sache bestimmt wird.

Dass wir uns nur mit Dingen umgeben sollten, die in uns Freude auslösen, haben wir bereits vor Jahren von Marie Kondo lernen können. Die Grundidee ihrer Konmari-Methode klingt klug und nachvollziehbar: nur das behalten, was Glücksgefühle entfacht („spark joy“). Wenn ich an meine ausgetragene Jeans denke, die nicht mehr richtig sitzt, oder aber an die alte CD-Rom, deren Daten längst auf einem kleinen USB-Stick gespeichert sind, frage ich mich schon, was ich noch damit soll. Diese Dinge bereiten mir sicher keine Freude mehr.

Aber was ist mit dem Staubsauger oder mit dem Abflussreiniger, die bei mir ordentlich verräumt sind und auf ihren regelmäßigen Einsatz warten? Freude lösen diese Dinge sicher nicht aus. Aber das, was aus ihrer Nutzung entsteht, gibt mir ein gutes Gefühl im Alltag und, manchmal wichtiger: Klarheit in meinen Wohnräumen, also in meiner direkten Umgebung (nämlich saubere Böden und freie Abflüsse). Und das ist extrem wertvoll für mich.

Geht es also vielleicht auch um das, was wir mit einer bestimmten Sache erzielen, also eher um den funktionalen Nutzen von etwas?

Der betriebswirtschaftliche Teil meines Herzens schlägt hier gleich höher: nun kommen wir der Sache bestimmt näher – ganz sprichwörtlich! Es geht um Nutzenmaximierung, persönliche Präferenzen, materielle Profite, … – das alles muss doch ganz klar den Wert unserer Besitztümer bestimmen. Oder? Je nach dem, wie hoch die Zeit- oder Kostenersparnis ist, desto mehr schätze ich das Teil. So die These. Der Staubsauger steht also hoch im Kurs (deswegen durfte er wohl auch trotz Marie Kondo bleiben)!

Soweit so gut. Nehme ich jetzt die feine, aber einfache Perlenkette, die ich von meiner Oma geerbt habe und die seit mehr als zehn Jahren im Schmuckkästchen liegt, komme ich wieder ins Grübeln: einen wirklichen Nutzen in Bezug auf Kosteneinsparung oder Effizienzsteigerung im Haushalt bringt sie nicht. Und richtig wertvoll ist sie aus materieller Sicht auch nicht. Freude bringt sie mir aber doch, eine ganze Menge sogar – und das fühlt sich wertvoll an für mich.

Wodurch entsteht nun am Ende ein Wert? Was heißt es genau, den Dingen ihren Wert zu geben?

Die Perspektive des Marketings eröffnet hier eine weitere Sichtweise: eine Sache, also ein Produkt, kann neben einem funktionalen, durchaus auch einen emotionalen Wert haben oder gar einen spirituellen.

Dazu würde auch passen, wovon die Beatles schon gesungen haben: „Money can’t buy you love“. In Bezug auf unser Wohlbefinden geht es um mehr als den rein finanziellen oder materiellen Wert einer Sache. Im Jahr 2010 wurde dies dann auch in einer wissenschaftlichen Studie von Daniel Kahnemann und Angus Deton gezeigt: ab einer bestimmten Einkommensgrenze werden wir Menschen durch mehr Geld nicht glücklicher – zumindest unter der Bedingung, dass unsere existentiellen Bedürfnisse wie Schlaf, Essen, Sicherheit befriedigt sind.

Diese Forschungsergebnisse machen durchaus Sinn, wenn man überlegt, dass eine teure Uhr aus Gold zwar zuverlässig die richtige Uhrzeit anzeigt, unsere Zeit aber nicht vermehren kann.

Der Zusammenhang zwischen dem materiellen Wert einer Sache und dem persönlichen Wohlbefinden wird schon seit Langem beobachtet und hat sich über die Jahrzehnte nicht wirklich verändert. Eine der weltweit umfangreichsten Studie zum Thema „Happiness“ Deton wurde im Jahr 1938 gestartet und untersucht bis heute Faktoren, die zu persönlichem Wohlbefinden beitragen, dazu gehören unter anderem psychosoziale oder biologische Faktoren. Die Kernaussage dieses groß angelegten Forschungsprojektes?

Enge Beziehungen, mehr als Geld oder Ruhm, halten die Menschen ihr ganzes Leben lang glücklich, so die Studie. Diese Bindungen – nicht aber materielle Besitztümer – schützen die Menschen vor Unzufriedenheit im Leben; sie helfen, den geistigen und körperlichen Verfall zu verzögern; und sie sind bessere Prädiktoren für ein langes und glückliches Leben als soziale Klasse, IQ oder sogar Gene.

Was aber bewegt mich dann trotzdem dazu, die Perlenkette meiner Oma bis heute so zu schätzen und nicht bei nächster Gelegenheit auszusortieren? Weil mein Herz daran hängt.

Im Buch „Undinge des deutsch-koreanischen Philosophen Byung-Chul Han findet man dazu folgenden Gedanken: „Der Besitz wird verinnerlicht und mit psychischen Inhalten aufgeladen. Die Dinge in meinem Besitz sind ein Behälter von Gefühlen und Erinnerungen. Die Geschichte, die den Dingen durch einen langen Gebrauch zuwächst, beseelt sie zu Herzensdingen.“

Das leuchtet mir ein. Auch meine Kette ist mit einer Geschichte „beseelt“: die Geschichte, dass sie meine Oma von ihrem Mann geschenkt bekam, und zwar zu ihrer bestandenen Meisterprüfung im Schneiderhandwerk. Mein Opa muss mächtig stolz auf sie gewesen sein. Auf dem verschnörkelten Goldverschluss der Kette sind das Prüfungsdatum und ihr Spitzname eingraviert. Da schwingt tiefe Zuneigung und Liebe mit.

Es wird klar: an dieser Kette hängen nicht nur feine Perlen, sondern auch meine Erinnerungen – an meine Oma und ihren Mann, an ihr Leben und ihre Gefühle. All das ist Teil ihres Erbes an mich und das ist mehr wert als eine Messlatte es ausdrücken könnte.

Vielleicht sind es dann auch nicht die super lässigen Laufschuhe an sich, sondern ihr Effekt: dass ich mich mit ihnen noch besser bewegen und trainieren kann, mich gesund und frei fühle? Vielleicht geht es bei der kleinen Tasche, die ich in Laos gekauft habe, gar nicht darum, wie viel sie gekostet hat, sondern dass sie die Erinnerungen an einen ganz besonderen Urlaubsmoment in sich trägt.

Das würde zum einen zu der Forderung von Marie Kondo passen, dass die Dinge in unserem direkten Lebensumfeld Freude entfachen sollen; zum anderen aber auch nicht ausschließen, was die Wissenschaft sagt: dass es mehr um stabile Beziehungen und emotionales Wohlbefinden geht, als um materielle Besitztümer. Doch die können durch ihren funktionalen Nutzen durchaus zu mehr Lebenszufriedenheit beitragen.

Wertebestimmung ist nicht eindimensional, immer mehrdimensional, heißt, von mehreren Seiten zu betrachten.

Was wir jedoch festhalten können, sind folgende vier Einsichten:

1. Eine Sache, viele Werte:

Jede Sache kann grundsätzlich unterschiedliche Arten von Wert haben, die unseren Alltag bereichern: es kann ein funktionaler Wert sein, dessen Kraft erst in der Anwendung entsteht oder auch ein emotionaler Wert von Dingen, die uns innerlich strahlen lassen.

2. Subjektiver Wert:

Dinge in unserem Alltag können zu Trägern von Erinnerungen oder Gefühlen werden. Damit liegt ihr Wert nicht messbar auf einer wissenschaftlichen Skala, sondern vielmehr in der tiefer gehenden Bedeutung des daran geknüpften Moments. Man denke an das erste Foto als Säugling mit unseren Eltern, in schlechter Qualität und trotzdem wunderschön; das von der Nichte gemalte Bild, was nach dem tollen Weihnachtsfest entstanden ist; oder auch der Korken der Champagner-Flasche, die bei der Einweihung der eigenen Büroräume geköpft wurde.

3. Individuelle Bedeutung:

Welchen Wert wir einer Sache geben, ist vollkommen individuell. Was meiner Nachbarin Freude bereitet, muss es bei mir noch lange nicht tun. Wir entscheiden, welchen Wert wir Dingen beimessen.

4. Bewusstsein für das Wertvolle:

Je mehr wir uns bewusst werden, warum wir bestimmten Dingen ihren Wert geben (und anderen nicht), desto mehr können wir uns mit den Sachen umgeben, die uns Kraft geben, Trost spenden oder Freude bereiten. Oder im Zweifel auch leichter davon trennen?

Vielleicht ist es schlussendlich auch gar nicht mehr so wichtig, wo genau wir uns auf dem Kontinuum „Sammler“ bis „Minimalist“ einordnen, wenn wir uns der Werte einer Sache bewusst sind.

Wir sollten es sogar feiern, dass wir nicht mehr in Höhlen wohnen, sondern Platz für Dinge haben, die wir mit Erinnerungen und Gefühlen aufladen können. So lange wir den Dingen ihren Wert geben und uns nicht mit wertlosem Zeug umgeben, werden wir unseren Alltag mit mehr Klarheit, Ruhe und Freude bestreiten. Wenn das nicht schon wertvoll an sich ist

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