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ARTIKEL | Gesucht: die Helden unseres Alltags – wie können wir uns retten?

In unseren kühnsten Träumen konnten wir früher sein wie sie: mutig und stark, voller Kraft und Zuversicht. Retter mit spektakulären Superkräften, die sich für die Armen und gegen Gewalt einsetzten. Als Helden mit Ringelsocken, Batmobil oder magischem Umhang halfen sie, die Welt vor dem Bösen zu beschützen und inspirierten uns. Auf Bildern, in Büchern und im Fernsehen konnten wir sie erleben, nicht selten als Puppen an unserer Bettkante, die uns im Schlaf beschützten. Eben wahre Helden, die die Welt ein Stückchen besser machten. Und heute, wo – und wer – sind unsere Helden jetzt?

Träumen wir überhaupt noch in Zeiten von Pandemie, Klimakatastrophen, Wirtschaftskrise und humanitären Ausnahmezuständen?

Was kann denn noch als heldenhaft gelten, wo Vieles sowieso ausweglos erscheint? Wo sollen hier denn die Superhelden sein, die sich mutig in luftige Höhen schwingen? Wir sind doch längst am Boden der Tatsachen angekommen. Oder?

Genau so, wie auch ein außergewöhnliches Bild plötzlich angekommen war, mitten in der Nacht in einem englischen Krankenhaus. Es war zu Beginn der zweiten Corona-Welle im Herbst, als sich die Intensiv-Betten dort wieder füllten.

Auf dem Bild zu sehen: ein kleiner Junge, der mit seiner Superhelden-Figur spielt. Aber: Seine früheren Stars haben ausgedient: Spiderman und Batman teilen sich den Platz im Papierkorb. Der Junge hält seine neue Heldenfigur in die Höhe, schaut hoffnungsvoll zu ihr hoch, ihr Umhang weht beim Fliegen.

Alles ist schwarz-weiß gezeichnet, mit einer Ausnahme: das Kreuz auf der Schürze der Heldin ist rot eingefärbt. Und damit wird klar, dass es eine Krankenschwester ist, die hier Superkräfte besitzt.

Banksy „Game Changer“, 2020 (Bildquelle: Christies, https://www.christies.com/en/lot/lot-6309459)

Das Bild ist eine Antwort auf die Pandemie-Situation, mit der wir alle als Gesellschaft konfrontiert waren und weiterhin konfrontiert sind. So, wie auch Viktor Frankl selbst in schwierigsten Zeiten immer wieder Antworten gab. Immer wieder appellierte der Begründer der sinnzentrierten Psychotherapie an die Menschen, dem Leben zu antworten, und somit auch ihre Perspektive zu wechseln. Der kleine Junge im Bild macht es uns vor:

Die Zeiten haben sich geändert, die Herausforderungen auch. Der Wille zum Sinn in uns Menschen bleibt. Und der Wille zum Perspektivenwechsel?

Wie steht es um unseren eigenen Willen, dem Leben zu antworten? Das Bild der Superheldin unserer Zeit stammt aus dem Pinsel des britischen Streetart-Künstlers Banksy. Er selbst übt auf viele eine große Faszination aus, weil es ihm bis heute gelungen ist, seine bürgerliche Identität geheim zu halten. Trotzdem (oder gerade deswegen) schafft er es, eine hohe Wirkung mit seiner kritischen Sichtweise auf politische und wirtschaftliche Themen zu erzielen.

Der Titel des Gemäldes mit dem kleinen Jungen – „Game Changer“ – stellt den Bezug zu eben jener Fähigkeit von Helden her, die es ihnen ermöglicht, eine schier ausweglose Situation zu verändern. Tapfer zu sein und das Spiel zu drehen. Und damit können unsere Helden eine Antwort auf die Herausforderungen geben, die das Leben gerade an sie stellt.

Nicht nur fiktive Heldenfiguren, sondern auch wir Menschen haben diese Superkraft in uns. Nämlich dann, wenn wir uns trauen, größer und weiter zu denken, über den aktuellen Moment hinaus.

Wir können uns von uns selbst distanzieren und uns für etwas einsetzen, was größer ist, als wir selbst – so, wie es die Helden unserer Kindheit getan haben. Wir können auch heldenhaft sein, indem wir die Herausforderungen des Lebens aktiv annehmen und Situationen Schritt für Schritt verändern. Wir Menschen können einen Perspektivenwechsel vornehmen, der erst in unseren Köpfen stattfindet und schließlich konkret umgesetzt wird.

So ist es auch Viktor Frankl als Überlebendem des Holocaust gelungen, eine zutiefst schmerzhafte und lebensbedrohliche Situation zu verändern – erst in seinen Gedanken, später in seinem Alltag. Wie ist ihm das gelungen? Für ihn war es die Vorstellung, dass er in der Zukunft Vorlesungen über die Auswirkungen des Konzentrationslagers auf die menschliche Psyche halten würde, die ihm die entscheidende Kraft zum Überleben gab. Seine Vision von der Zukunft war stärker als seine Verletzungen.

So sehr seine Tage im Konzentrationslager auch von Leid und Schrecken durchdrungen waren, er dachte nicht daran, aufzugeben. Er hielt an seiner Zukunftsvision fest und blieb tapfer. „Denn kein Mensch wisse die Zukunft, kein Mensch wisse, was ihm vielleicht schon die nächste Stunde bringe“ (Frankl, 2015, S. 124). Ob er sich selbst deswegen als Held sah, wissen wir nicht.

Klar ist, dass wir viel von Viktor Frankl lernen können. Er ist ein Vorbild, wenn es darum geht, eine präzise Vorstellung unserer eigenen Zukunft zu entwickeln, obwohl und gerade wenn wir uns in einer scheinbar aussichtslosen Situation befinden.

Der Duden definiert Held als „jemand, der sich durch außergewöhnliche Tapferkeit im Krieg auszeichnet und durch sein Verhalten zum Vorbild [gemacht] wird“. Wenn wir „Krieg“ einmal gleichsetzen mit „gesellschaftlichem, ökologischem oder wirtschaftlichem Ausnahmezustand“, wird klar, warum die Krankenschwester in Zeiten einer Pandemie zur Heldin wird. Ihre Ausdauer, ihr Einsatz und ihre Tapferkeit werden zum Vorbild, auch für den kleinen Jungen im Bild.

Indem Banksy das heldenhafte Verhalten von Krankenschwestern und -pflegern in den Mittelpunkt stellt, ist ihm mit seinem Werk „Game Changer“ gelungen, den Fokus auf die guten Kräfte in der Pandemie zu lenken. Er hatte das Bild an die englische Klinik geschickt, um sich für den Einsatz der Pflegekräfte in der Corona-Pandemie zu bedanken. Sein Gemälde spricht eine deutliche Sprache, die keine fiktiven Wunschfiguren als Helden erachtet (wir erinnern uns: Batman und Spiderman landen im Mülleimer), sondern Menschen. Menschen, die mit besonders viel Herzblut, Expertise und Ausdauer handeln, aber am Ende eben doch Menschen wie du und ich.

Es ist die Zeit für Alltagshelden gekommen. Helden der Jetzt-Zeit, die wir mehr denn je brauchen.

Lasst uns also auf die Suche gehen und die Alltagshelden entdecken, denn sie können uns Zuversicht bieten und aus Krisen retten. Das sind jene Menschen, die nicht aufgeben und die sich für Veränderungen zum Guten einsetzen. Das sind Persönlichkeiten, die den Mut haben, die Zukunft anders und positiver zu denken, als sie heute erscheinen mag und damit als Vorbild dienen. Das sind Leute, die gar nicht immer laut, sondern manchmal besonders leise und beständig arbeiten und deren vermeintlich kleine Gesten zum echten Game Changer in unserem krisengeschüttelten Alltag werden.

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird: wir müssen nicht weit schauen, denn die Helden unserer Zeit sind ganz nah. Wir sind es selbst, wenn wir nur wollen.

Wir wissen, dass wir alle eine starke Vorstellungskraft entwickeln können, so wie Viktor Frankl, der noch im Konzentrationslager davon träumte, Vorlesungen zu halten. Wir können tapfer sein in dieser Krisenzeit. Wir können ein Bild von der Zukunft entwickeln, in der wir über uns hinausgewachsen sind und die aktuellen Herausforderungen überwunden haben. Und wir können dieses Bild Stück für Stück in die Realität umsetzen und ausweglose Situationen drehen. So, wie die Superhelden uns das früher vorgemacht haben. Als Kinder erschienen uns diese Vorbilder schier unerreichbar. Doch gerade jetzt, in Zeiten von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Krisen, liegt es an uns, heldenhaft zu handeln.

Wir wissen, dass es oft die kleinen Dinge sind im Leben, die einen Unterschied machen: das offene Ohr im Hausflur für den einsamen Nachbarn; unserer Aufforderung zum Wählen nachkommen; die extra fünf Minuten nach Dienstschluss, um der Kollegin einen Raum fürs verbale Auskotzen über die Herausforderungen im Lockdown zu geben; und auch mal das Lieblingseis bei Regenwetter und 12 Grad für die Neffen und Nichten.

Banksy hat uns mit seinem Bild der Krankenschwester daran erinnert, dass wir Menschen selbst heldenhaft sein können – hier und jetzt, in dieser verrückten Zeit.

Er hat uns daran erinnert, dass es in Krisenzeiten wie heute nicht um den (fiktiven) Retter mit spektakulären Superkräften geht, sondern darum, das zutiefst Menschliche in den Vordergrund zu stellen. So entstehen Heldengeschichten heute, nicht durch abgefahrene Special Effects oder wehende Zauberumhänge.

Die Wandlung der Krise in eine bessere Zukunft kann durch uns als Alltagshelden entstehen.

Durch unser eigenes Verhalten können wir ein Vorbild für andere sein. So können wir uns selbst retten: wenn wir den Mut haben, das Bild von der Zukunft aktiv zu gestalten – erst in unseren Köpfen, dann in unserem Alltag.

Dass die Vorbildfunktion heldenhafter Menschen neben dem eigentlichen Marktwert auch einen ideellen Wert hat, zeigte übrigens die Auktion dieses Banksy-Kunstwerks im März 2021: „Game Changer“ erzielte mit 16,8 Mio. Pfund (ca. 19,5 Mio. Euro) einen Rekordpreis. Der Erlös wurde an die britische Gesundheitsbehörde gespendet. Vielleicht auch, um noch mehr Superhelden auf ihrer Mission zu unterstützen.

 

© Ein Artikel von: Dr. Nina Bürklin.

 

 

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